Aktuelle Forschungsprojekte

Starke Sender, schwache Empfänger. Russland und die Radiowellen 1895-1945

2023 flammten sie in Russland wieder auf, Auseinandersetzungen um die Frage, wem die Erfindung des Radios gebührt, Ausländern wie dem Italiener Marconi, oder einem Landsmann, dem Petersburger Physiker A. S. Popov (1859-1906). Ihm zu Ehren wurde erstmalig der 7. Mai 1945 als Tag des Radios begangen. Anlass bot eine Vorstellung seiner Apparatur vor damals genau 50 Jahren. Dieses halbe Jahrhundert deckt das Projekt ab.

Im Mittelpunkt stehen Radiowellen und die Frage, welche Rolle bei ihrer Entdeckung und Verwendung Russland gespielt hat, welchen Gebrauch es davon unter welchen Umständen zu welchen Zielen mit welchem Erfolg gemacht hat. Untersucht werden sollen sowohl militärische wie zivile Nutzung. Ganz gleich, ob es sich um Morsezeichen, Sprechfunk oder Radioprogramme handelte: Funkwellen blieben zunächst einmal Funkwellen. Ob Musikfreundin, Parteifunktionär oder Frontkommandeur – um Konzerte, Planvorgaben oder Befehle empfangen zu können, benötigten sie Endgeräte, deren Bauteile sich nicht wesentlich voneinander unterschieden.

Der Unterschied lag woanders, auf Seite der Sender. Die propagandistischen Möglichkeiten der Radiowellen hatte Lenin früh erkannt. Waren es zunächst drahtlose Telegramme, mit denen die Weltrevolution befördert werden sollte, nahm Moskau 1924 einen regulären Rundfunkbetrieb auf. Um das In- und Ausland erreichen zu können, gingen die weltweit stärksten Sender in Betrieb. Damit vermochte der Bau von Empfangsanlagen nicht Schritt zu halten. Die Großsender mit ihren 100 kW-Röhren verkörperten ein Stück Spitzentechnologie, doch überfordert zeigte sich die Industrie des Landes bei der Serienfertigung kleiner, standardisierter Röhren, die im Westen längst Massenartikel darstellten.

Einen Ausweg schienen die Gemeinschaftsempfangsanlagen zu bilden. Es liegt nahe, hier das Sinnbild eines totalitären Staates zu sehen, welcher seinen Untertanen (buchstäblich) von oben herab behandelt. Ähnlich lagen die Verhältnisse im Militär. Am Vorabend des deutschen Überfalls verfügten Luftwaffenpiloten überhaupt erst vom Staffelführer aufwärts über einen Sender an Bord. Doch gerade, weil es überall an fertigen Empfängern fehlte, blieb Radiobasteln in der Sowjetunion länger als anderswo Volkssport. Dort behauptete sich eine Amateurfunkszene, die sich das Ausprobieren und Betreiben von Sendern nicht nehmen ließ. Aus jenem Milieu wiederum rekrutierten sich viele spätere Militärfunker.

Das alte Thema russischer Rückständigkeit lohnt einen zweiten Blick. Hierfür bietet sich der Umgang mit Radiowellen in besonderer Weise an. Patentrechtlich und nationalpädagogisch wird die Frage nach der Urheberschaft einer Erfindung bedeutsam bleiben, doch historisch interessanter erscheinen andere Aspekte: internationales Umfeld, Kontakte und wechselseitige Lernprozesse – zwischen Gelehrten untereinander, aber auch zwischen Wissenschaft und Praxis. Die Durchsetzung der Funktechnik war das Ergebnis globaler Kooperation wie Konkurrenz in Wissenschaft, Wirtschaft und Staatenwelt. Weiterentwicklung und Gebrauch zu Sowjetzeiten wiesen ihre Besonderheiten auf, lassen sich aber ebenfalls nur angemessen analysieren im wechselseitigen Verhältnis von Mensch, Technik und Gesellschaft.

Auch wenn Entwicklungen in den Natur- und Ingenieurswissenschaften Raum gegeben wird, ist Ziel doch weniger eine herkömmliche („interne“) als vielmehr eine erweiterte, „externe“ Technikgeschichte. Insofern versteht sich das Forschungsvorhaben als Beitrag zu einer breit verstandenen Kulturgeschichte der Technik.

Bearbeiter: Prof. Dr. phil. Mathias Niendorf


Die Russische Freiwillige Westarmee. Eine Geschichte imperialer Verflechtung in Europa nach dem Zerfall der Imperien (1917–1923)

Am 8. Oktober 1919 eröffnete die Russische Freiwillige Westarmee unter ihrem Oberbefehlshaber Pavel Bermondt-Avalov einen Angriff auf Riga, die Hauptstadt der jungen Republik Lettland, und sorgte mit diesem Vorgehen für einen europaweiten Aufschrei in der demokratisch orientierten Presse. Die Armee selbst mutete schon Zeitgenossen sonderbar an – schließlich war sie erst mit dem Übertritt deutscher Freikorps unter russischen Oberbefehl zustande gekommen. Doch hatten sich die vormaligen Kriegsgegner nicht nur in militärischer Hinsicht zu einer vermeintlichen Einheit verbunden. Auch auf politischer Ebene hatten hier alte und neue Eliten aus Politik, Militär und Wirtschaft zusammengefunden. Konsens dieser recht bunten Zweckgemeinschaft bestand in der ablehnenden Haltung zur Neuordnung Europas nach nationalstaatlichen Prinzipien.

Das Dissertationsvorhaben ordnet dieses Geschehen in den Kontext imperialer Zerfallsprozesse ein und sieht es exemplarisch für einen letzten Rettungsversuch imperialer Herrschaft. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Lebenswegen und Weltwahrnehmungen der Akteure nach den Revolutionen in Russland und Deutschland, dem gescheiterten Versuch, ein alternatives Staatsmodell in Lettland zu etablieren sowie den Nachwirkungen des Konfliktes in den neuen Staatsformen im östlichen Europa und in Deutschland. Die übergeordneten Fragestellungen lauten: Was bedeutet Imperialität ohne die Imperien? Wer agiert auch nach dem Zerfall der Imperien in deren Namen und zu welchem Zweck? Und inwiefern können imperiale Strategien gesellschaftlich mobilisierend wirken in einer Zeit, die heute allgemein mit Nationalisierung und Demokratisierung verbunden wird?

Bearbeiter: Thomas Rettig, M.A.