Forschung

Europäische Gedenkkultur im Spiegel baltischer Erinnerungskonkurrenzen – das Beispiel des 23. Augusts

Das Promotionsprojekt untersucht konkurrierende Narrative zum „23. August“, einem 2009 vom EU-Parlament eingeführten europäischen Gedenktag für die Opfer totalitärer und autoritärer Regime, der auch als Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus bezeichnet wird. Der Gedenktag memorialisiert das historische Datum des sogenannten Hitler-Stalin-Pakts, der am 23. August 1939 geschlossen wurde, für eine europäische Gedenkkultur. Er war dabei schon vor seiner Einführung umstritten. So wurde unter anderem prominent kritisiert, dass er eine narrative Verbindung – und damit, so der Vorwurf, eine implizite Gleichsetzung – zwischen dem Holocaust und politischen Verbrechen der Sowjetunion schaffe. Andererseits wurde seine Einführung als eine Öffnung der westeuropäisch dominierten EU-Geschichtspolitik für Perspektiven und historische Erfahrungen in mittel- und osteuropäischen Staaten gelobt.

Das Projekt widmet sich den narrativen Strategien hinsichtlich der Bedeutsamkeit des „23. Augusts“ und untersucht die Debatten um den Gedenktag als Beispiel für Erinnerungskonkurrenzen und Konflikte um historische Deutungshoheit der Gewaltgeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Einen Schwerpunkt bildet die systematische Erfassung und Kontextualisierung solcher Erzählungen, die in der historisch am unmittelbarsten vom geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts betroffenen Region – dem Ostseeraum – bemüht wurden und werden.

Bearbeiterin: Josephine Eckert, M.A.

Geschichte der Nachbarschaft in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (Habilitations-Projekt)

Gegenwärtig bearbeite ich ein Projekt zur Geschichte der Nachbarschaft in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Nachbarschaft prägt die Menschen, die in ihr leben. Sie ist ein wichtiger Sozialraum alltäglicher Interaktion und zugleich ein Bezugspunkt, wenn Individuen ihre Lebensgeschichte erinnern und erzählen. Das Aufwachsen in einer bestimmten dörflichen oder städtischen Nachbarschaft und damit verbunden in einem spezifischen Milieu prägt die Sozialisation eines Menschen und beeinflusst sein späteres Leben. Sich entscheiden zu können, in einer Nachbarschaft leben zu wollen oder aber aus ökonomischen Gründen gezwungenermaßen dort zu wohnen, verweist auf sozio-kulturelle Differenzen und ökonomische Ungleichheitsverhältnisse. Nachbarschaften geben im Umkehrschluss Auskunft über die soziale Beschaffenheit ihre Bewohner*innen oder sind zumindest ein Indikator dafür.

Das Habil-Projekt soll einem gedanklichen Dreischritt folgen und beleuchten, wie Nachbarschaft gedacht, geplant und wie sie in verschiedenen Zeiten gelebt wurde. Dabei spielt die gesellschaftliche Regulierung nachbarschaftlicher Beziehungen ebenso eine Rolle wie Praktiken nachbarschaftlicher Interaktion bzw. Mikropraktiken räumlicher und sozialer Abgrenzung; die Geschichte des Gerüchts/des Lästerns/der Denunziation und die Darstellung von Nachbarschaft in der populären Kultur.

In meinem geplanten Habilitationsprojekt werden damit Mentalitäten, kulturelle Prägungen und physisches Kulturerbe in urbanen und ländlichen Räumen in den Blick genommen, um die Rolle informeller Sozialbeziehungen außerhalb blutsverwandtschaftlicher Netzwerke in einer Zeit auszuloten, in der eine Transformation hin zu einer immer stärkeren Formalisierung sozialer Beziehungen durch den Ausbau moderner (Sozial-)Staatlichkeit bei gleichzeitiger Individualisierung der Lebensumstände stattgefunden hat.

History of Neighborhood in Germany in the 19th and 20th century (Habilitation project):

I am currently working on a project on the history of neighborhoods in Germany in the 19th and 20th centuries. A neighborhood affects the people who live in it. It is an important social space of everyday interaction and at the same time a point of reference when individuals remember and tell their life stories. Growing up in a particular village or urban neighborhood, and thus in a specific milieu, shapes a person's socialization and influences his or her later life. Being able to decide whether to live in a neighborhood or to be forced to live there for economic reasons points to socio-cultural differences and economic inequalities. Neighborhoods, in turn, provide information about the social condition of their inhabitants or are at least an indicator for it.

The habilitation project will follow a three-step approach and shed light on how neighborhoods were imagined, planned and how they were lived in different times. The social regulation of neighborly relations plays a role as well as practices of neighborly interaction and micro-practices of spatial and social segregation; the history of rumor/blasphemy/denunciation and the representation of neighborhood in popular culture.

My planned habilitation project will thus focus on mentalities, cultural formations, and physical cultural heritage in urban and rural spaces in order to explore the role of informal social relations outside of kinship networks in an era in which a transformation towards an ever-increasing formalization of social relations has taken place through the expansion of modern (social) statehood while at the same time the individualization of lifestyles has taken place.

Bearbeiter: Dr. Ronny Grundig

 

Rechte Kaderschmieden. Die „Jungen Nationaldemokraten“, ca. 1967–1994

Die „Jungen Nationaldemokraten“ (JN) nehmen eine Schlüsselposition in der Geschichte der ‚Nationalen Opposition‘ der Bundesrepublik Deutschland ein. Die 1967 aufgebaute deutschlandweit agierende Parteijugend der NPD war bis in die 1990er Jahre die größte Jugendorganisation des organisierten Nationalismus in der Bonner Republik. Sie prägte ihre Mutterpartei maßgeblich, hielt die nationalistische Bewegung in der Krisenzeit der 1970er- und -80er-Jahre zusammen und war Motor der Verjüngung, Radikalisierung und Ausweitung der nationalistischen Bewegung auf Jugendkulturen. Ihre Mitglieder agierten dabei an der Schnittstelle traditioneller nationalistischer Formen und popkultureller Praktiken. In meinem Projekt gehe ich am Gegenstand der JN der Frage nach, wie organisierte Nationalist*innen ihre politische Praxis an die Spielräume der Demokratie anpassten, welchen Einfluss die gesellschaftliche Modernisierung auf ihre Aktionsformen und Subjektivierungspraktiken hatte sowie wo und wie andere Akteur*innen ihre Handlungs- und Wirkungsmacht beschnitten oder gar beförderten. Die „Jungen Nationaldemokraten“ werden dabei nicht nur als Organisation der nationalistischen Bewegung betrachtet, sondern gleichzeitig als ein Teil der politischen Jugend in der Bundesrepublik, der wie seine Altersgenoss*innen zunehmend auch über Konsum- und Popkultur gesellschaftliche Mitsprache einforderte.

Bearbeiterin: Laura Haßler, M.A.

Inklusive Exzellenz in der Medizin. Geschlechteraspekte in der medizinischen Forschung (InkE)

Das Strukturprojekt zwischen der Universität Greifswald (UG) und der Universitätsmedizin Greifswald (UMG) befasst sich mit den Wissensbeständen und Erkenntnisprozessen der geschlechterspezifischen Medizin, die stärker als bislang in die medizinische Forschung einfließen sollen. Die bestehende Diskrepanz zwischen dem Wissen um die Bedeutsamkeit des Einflusses der Kategorie Geschlecht auf Gesundheit und Krankheit einerseits und der fehlenden Umsetzung dieser gendermedizinischen Erkenntnisse in den medizinischen Forschungsalltag andererseits wird im InkE-Projekt aufgegriffen und bearbeitet. Werden Daten nicht geschlechtersensibel erhoben und – wie dies häufig der Fall ist – in klinischen Studien vorwiegend männliche Probanden untersucht, hat dies schwerwiegende Folgen für die Diagnostik, Behandlung oder Risikovorhersage von Erkrankungen. Die historischen Hintergründe dieser Geschlechterblindheit in der medizinischen Forschung aufzuklären und daraus Implikationen für die heutige Forschungspraxis in der Medizin abzuleiten, ist ebenso Bestandteil des Projektes wie für die generelle Fragilität und Veränderbarkeit von Geschlechter- und Körperkonzepten zu sensibilisieren. UMG und UG werden durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit innovative Ansätze zur Beratung und Weiterbildung von Forschenden, Wissenschaftskommunikation und Datenmodellierung im Hinblick auf geschlechtsspezifische Wissensbestände entwickeln und in die Anwendung bringen.

Bearbeiterin: Dr.  phil. Jenny Linek. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert.

Fürsorglicher Freiheitsentzug in Großbritannien und Deutschland

Das Projekt untersucht Institutionen des fürsorglichen Freiheitsentzugs in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland im Verlauf des 20. Jahrhunderts. In den Blick rücken eine Reihe von Institutionen, die formal nicht als Gefängnisse galten, jedoch ebenso zur Reformierung, Ausgrenzung oder Freiheitsbeschränkung von Personen eingesetzt wurden, die nicht den gesellschaftlichen Normen entsprachen. Für Großbritannien stehen die kirchlichen Magdalene-Asyle sowie die sogenannten ‘Mother and Baby Homes’ und Institutionen der ‘Female Penitentiary Movement’ im Fokus. In Deutschland bilden vor allem die Erziehungsheime und Arbeitshäuser eine besondere nationale Ausprägung. Das Projekt zeichnet die Entwicklung dieser Institutionen bis in das späte 20. Jahrhundert nach, wodurch die Untersuchung der Entwicklungen in den Kontexten der Nachkriegssozialstaaten und des „Wirtschaftswunders“ möglich wird. Es betrachtet Inhaftierung und Zwang außerhalb des Strafvollzugs im Kontext der von Demokratie und Rechtsstaat versprochenen (und im Grundgesetz festgelegten) Freiheiten und Schutzmaßnahmen. Eine tragende Rolle dabei wird insbesondere der wandelnden Einfluss von Religion und Geschlecht spielen.
Dieses Projekt ist jedoch nicht ein einfache Institutionsgeschichte. Ein zentraler Untersuchungspunkt bleiben die Erfahrungen von Insass*innen sowie deren Verortung in längeren Lebensläufen von Beziehungen zu Wohlfahrtseinrichtungen. Das Projekt verfolgt die Umstände der Einweisung durch Familien, Priester, Sozialarbeiter*innen oder Gerichte, aber auch die Erfahrungen der Insass*innen von Heimen, „Asylen“ und Arbeitshäusern nach, um die vielfältigen Verbindungen zwischen Wohlfahrtssystem und Strafjustiz zu bewerten.

Bearbeiterin: Dr. Annalisa Martin

Editionsprojekt: Marc-of-Frankfurt: Politisierung eines Sexworkers in Zeiten der Legalisierung

Das Projekt untersucht das politische Engagement von Stefan Hülsmann als Marc-of-Frankfurt im Bereich der Sexarbeit in den 2000er und frühen 2010er Jahren auf der Grundlage des der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft überlassenen Nachlasses. Ziel des Projektes ist die Veröffentlichung einer Quellenedition, die die politische Tätigkeit von Stefan Hülsmann in den Vordergrund rückt und kontextualisiert. Geleitet wird die Auswahl, Einordnung und Interpretation der zu veröffentlichenden Quellen durch die Frage nach dem Wandel und der Spezifik von prostitutionsbezogenem Aktivismus durch aktive Sexarbeitende im Kontext der Legalisierung. Dabei steht Stefan Hülsmann, bzw. Marc-of-Frankfurt, im Zentrum der Analyse. Gleichzeitig werden seine Tätigkeit und die dadurch entstandenen Quellen in den breiteren politischen, sozialen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet, um auch eine erste quellenbasierte historisch angelegte Studie der deutschen Prostitutionspolitik nach 2000 zu liefern.

Bearbeiterinnen: Dr. Annallisa Martin, PhD zusammen mit Sonja Dolinsek M.A., Universität Paderborn. Das Projekt wird von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft im Rahmen des Hülsmann-Förderfonds finanziert.

Der südliche Ostseeraum in der britischen Außen- und Sicherheitspolitik 1917/18 bis 1939 und 1939-1945/46

Der Blick von außen: Danzig um 1920

In der Region südlich der Ostsee verfolgte die Weltmacht Großbritannien traditionell keine vitalen Eigeninteressen. Alle britischen Führungen stimmten jedoch seit Ende des Ersten Weltkrieges darin überein, dass eine Eskalation der zahlreichen dort diagnostizierten und als äußerst kompliziert bewerteten Konfliktfelder verhindert werde müsse. Sollten diese außer Kontrolle geraten, drohte daraus der Funkte für einen unbedingt zu vermeidenden neuen Großkrieg zu schlagen.

Die Forschungen konzentrieren sich auf die britische Entscheidungsfindung und deren versuchter Umsetzung im Spannungsfeld von Mächteinteressen, unterschiedlicher Einflussfaktoren und Schwerpunksetzungen. Bei der Untersuchung der britischen Strategie und deren Umsetzung gilt die Konzentration ausgewählten Konfliktherden mit überregional bedeutsamem Spannungspotenzial wie z. B. der Danzig-Korridorfrage, der polnisch-sowjetischen Grenze, der Wilnafrage oder dem Problemfeld Teschen.

Bearbeiter: PD Dr. phil. Lutz Oberdörfer

 

Die Militärischen Hinterlassenschaften der Sowjetunion in Polen: Zeugnisse der Unterdrückung oder erhaltenswertes Kulturerbe?

Das Dissertationsprojekt hat es sich zum Ziel  gesetzt, die in der heutigen Gesellschaft Polens existierenden Erinnerungs- und Erbekultur bezüglich der dortigen sowjetischen Militärhinterlassenschaften sowohl in ihrer gesellschaftlichen als räumlich-materiellen Dimension anhand  exemplarisch ausgewählter Objekte zu untersuchen und miteinander in Beziehung zu setzen. In den Mittelpunkt rückt dabei die Frage, wie das militärische Erbe der Sowjetunion in Polen wahrgenommen und behandelt wird.
Mit Hilfe von vor Ort befragten Zeitzeugen sowie soziologischer und kulturwissenschaftlicher Konzepte, wie etwa der wissenssoziologischen Diskursanalyse und dem Konzept des kollektiven Gedächtnisses, soll die gesellschaftliche Konzeption und Semantisierung dieser Hinterlassenschaften untersucht werden.
Die räumlich-materielle Dimension, welche  die heutige Nutzung, den gegenwärtigen physischen Zustand der Objekte sowie derzeit stattfindende als auch bereits abgeschlossene räumliche Veränderungen diesbezüglich beinhaltet, sollen durch die Auswertung von  Satellitenaufnahmen sowie von vor Ort getätigten Foto- und Videoaufnahmen erfasst und dokumentiert werden.

https://phil.uni-greifswald.de/institute/einrichtungen/ifzo/forschungsphase-fragmentierte-transformationen/geteiltes-erbe/

Bearbeiter: Jakub Aleksander Ramelow

Der Süchtige. Eine transnationale Figur der Moderne

Die Ordnung einer Gesellschaft wird durch diejenigen Menschen bestimmt, die in ihr leben. Zugleich bringen Gesellschaften jedoch menschliche Figuren hervor, die Teile des Sozialen veranschaulichen und als „Sozialfiguren“ einen Referenzpunkt gesellschaftlicher Selbstverständigung bilden. Der Süchtige ist eine solche Sozialfigur, die in der westlichen Moderne des 19. Jahrhunderts entworfen wird und in der sich gesellschaftliche Ängste und Krisenwahrnehmungen in emblematischer Weise verdichten. Unabhängig davon, in welcher Weise der Süchtige seitdem beschrieben wurde, ob als Einsamer, Fremder oder Kranker, als Lebemann oder Psychopath, als Haltloser, Verbrecher oder als Opfer ärztlicher Kunstfehler und drogenbasierter Kriegsstrategien – stets bestimmte seine Charakterisierung den staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit psychotropen Stoffen wesentlich. Ein Portrait des Süchtigen, wie es hier für die westliche Welt des 19. und 20. Jahrhundert entworfen werden soll, ist also mehr als die Geschichte einer transnationalen Subjektivierungsform. Es berührt zugleich die Frage danach, in welchem Maße diejenigen Gesellschaften, die den Süchtigen als die beunruhigende andere Seite der eigenen Kultur entwarfen, Drogenpolitik immer auch als Teil ihrer Identitätspolitik betrieben.

Bearbeiterin: Prof. Dr. phil. Annelie Ramsbrock

Bewegende Bilder – Bewegungen im Bild. Protestfotografie in Deutschland und Schweden, 1880 - 1918 (Kopie 1)

Fotos von Protesten rufen unterschiedliche Assoziationen hervor. Mögen es verwackelte Fotos in sozialen Medien oder Pulitzer-Preis prämierte Fotodokumentationen sein. Als Erzeugnisse der visuellen Begleitung von Protesten eint sie ihre Überschreitung räumlicher Grenzen und ihr Potential selbst zur Geschichte zu werden. Das Promotionsprojekt zielt darauf ab, Fotografien, die im Zusammenhang mit Protestbewegungen zum Arbeitskampf, dem Frauenwahlrecht und dem Naturschutz zwischen 1880 und 1918 in Deutschland und Schweden entstanden, zu analysieren. Angesiedelt im Bereich der Visual History wird untersucht, inwiefern diese technischen Bilder Narrative und Gegennarrative der Protestierenden hervorbrachten, die schriftliche Berichte ergänzten oder konterkariert.

Der Untersuchungszeitraum um die Jahrhundertwende ist durch entscheidende und rasch aufeinanderfolgende fototechnische Entwicklungen und dynamische gesellschaftspolitische Prozesse charakterisiert. Das Aufkommen kompakterer Kameras um 1880 führt zu einem Wachstum der privaten Fotografie ebenso wie des professionellen Fotojournalismus, der zudem von neuen Drucktechniken profitiert. So begleitete die Fotografie auch aktiv die gesellschaftlichen Entwicklungen in beiden Ländern. Besonders die illustrierte Presse trug dazu bei, Gewaltepisoden, wie sie Streiks und politische Demonstrationen mit sich brachten, zu dramatisieren. Als Untersuchungsraum dienen dem Projekt Deutschland und Schweden, deren Gemeinsamkeiten und Verflechtungen beispielsweise in sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Entwicklungen stark ausgeprägt sind. Mit dem Storstrejken von 1909 spielte sich einer der längsten und weitreichendsten sozialen Konflikte jener Zeit in Schweden ab, der Kampfbegriffe wie „Streikterrorismus“ hervorbrachte. In Deutschland wiederum formierten sich starke Widerstandskräfte sowohl gegen die Aushöhlung der liberalen Ordnung als auch gegen die demokratische ‚Weiterentwicklung‘ der wilhelminischen Gesellschaft. Diese Widersprüche gingen mit enttäuschten Erwartungen bei Sozialisten und Linksliberalen ebenso wie bei Konservativen und Rechtsradikalen einher und werden als ein signifikantes Beispiel für eine politische Peripetie untersucht, die schließlich im Ersten Weltkrieg als eine der größten Katastrophen der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts mündete.

Bearbeiter: Jan Reinicke, M.A. 

Girolamo Lucchesini - ein europäischer Höfling im Zeitalter der Revolution

Der Höfling Girolamo Lucchesini

Mit allen Requisiten einer adligen Bildung ausgestattet, verkörperte Lucchesini (geboren 1751 in Lucca, gestorben 1825 in Florenz) noch einmal den Typus des an nationale Grenzen nicht gebundenen Höflings, dessen Status auf einer persönlichen Treuebeziehung zu dem Monarchen beruhte, in dessen Dienste er trat.

Zunächst Vorleser Friedrichs des Großen, konnte er sich unter drei aufeinander folgenden preußischen Königen halten und wurde sogar Preußens Botschafter in Wien und Paris. Erst der Kurswechsel der preußischen Politik nach der Niederlage von Jena und Auerstedt ließ ihn für die Berliner Politik obsolet erscheinen. Umso bemerkenswerter ist es, dass die Fürsprache der französischen Amtsträger Duroc und Talleyrand bei Napoleon dafür gesorgt hat, dass Lucchesini erneut mit einer Hofcharge, diesmal am Hof von Napoleons ältester Schwester in Lucca, betraut wurde. Dort verkehrten bedeutende Künstler, unter ihnen Thorvaldsen und Paganini, Rauch und Canova. 1811 ist Lucchesini in Elisas Auftrag erneut nach Paris gekommen.

Welche kulturelle und soziale Ausstattung hat Lucchesini befähigt, sich auf ganz verschiedenen Positionen in verschiedenen Hauptstädten Europas zu behaupten? Wie erklärt sich Lucchesinis Geschmeidigkeit, mit der er auch die von Napoleon erzwungenen Umwälzungen in seiner Heimatrepublik Lucca überstand? Solchen Fragestellungen will diese „soziale Biografie“ nachgehen.

Bearbeiter: Prof. Dr. phil. Thomas Stamm-Kuhlmann

Im Dienst der Gemeinschaft. Arbeit als Therapie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus

Mit der Gründung des Weimarer Sozialstaats im November 1918 wurden erstmals soziale Grundrechte in der Verfassung verankert. Zudem wurde das System der Sozialversicherungen, aber auch die öffentliche Fürsorge und politische Mitbestimmungsrechte erheblich ausgeweitet. In dieser sozialpolitischen Aufbruchstimmung entwickelte sich die Wiederherstellung der Arbeitskraft zu einer sozialmedizinischen Leitidee, der die Psychiatrie mit der systematischen Ausweitung der Arbeitstherapie nachzukommen versuchte. Arbeit wurde in Folge dessen nicht mehr nur als Tätigkeit zur Einkommenserzielung begriffen, sondern auch als therapeutisches Mittel entworfen, um Menschen mit psychischen oder physischen Beeinträchtigungen an die arbeitsweltlichen Grundanforderungen heranzuführen. Das vorgeschlagene Projekt setzt hier an. Es möchte am Beispiel der 1912 eröffneten Pommerschen Provinzial-Heilanstalt in Stralsund das Ineinandergreifen von ökonomischen und (sozial-)politischen Gegebenheiten, therapeutischen Zielsetzungen und kulturellen Deutungsmustern von Arbeitsfähigkeit und der Unfähigkeit zu Arbeiten über den Systemwechsel 1933 hinweg untersuchen. Dabei fragt es, welche sozialstaatlichen und sozialmedizinischen Konzepte von Arbeit diese Entwicklung lancierten und welche Leistungsparameter dabei für wen entwickelt wurden. Welche konkreten therapeutischen Maßnahmen zur Wiederherstellung von Arbeitskraft stellten Sozialingenieure in diesem Zusammenhang bereit? Welche praktischen Konsequenzen hatte das für die Betroffenen und inwieweit wurden hier geschlechts- und klassenspezifische Unterschiede gemacht? Schließlich: Inwieweit und mit welchen Begründungen mutierte die Unfähigkeit zu Arbeiten von einem sozialmedizinischen Interventionskriterium in der Weimarer Republik zu einem Selektionskriterium im Nationalsozialismus?  

Bearbeiter: Jonas Wolf, M.A.