GRK 619: Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostseeraum

DFG-Förderung von 2000 bis 2009

Der Ostseeraum - die Region des Mare Balticum - ist und war in Gegenwart und Geschichte stets eine Zone fruchtbarer Austauschbeziehungen, deren Intensität allerdings häufig auch unter Kriegen und politisch bestimmten Abgrenzungen litt. Die hier offenbar werdende Spannung zwischen staatlicher Divergenz und kultureller sowie gesellschaftlicher Integration zieht sich seit dem frühen Mittelalter durch alle historischen Epochen und eröffnet ein breites Themenspektrum für das Graduiertenkolleg. Alle Themen werden durch bestimmte Leitfragen miteinander verbunden: Wie werden Fremde und fremde Kulturen wahrgenommen und rezipiert? In welcher Form und in welchem Maße trägt die Auseinandersetzung mit dem Fremden zur Identitätsbildung, zur Transformation der eigenen Kultur und zur Integration bei?

Doktorandinnen und Doktoranden:

Herrschaftswandel im unteren Dünagebiet im 13. Jahrhundert - Wirkungen des Kontaktes zwischen Deutschen und Balten

Sonja Birli
(Stipendiatin 06/2002-)

 

Das Dissertationsprojekt hat zur Aufgabe, am Beispiel der Diözese Riga den Wandel der Herrschaftsverhältnisse im Baltikum im Zuge der Eroberung und Missionierung dieses Raumes durch Deutsche im 13. Jahrhundert zu untersuchen. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei auf dem Zusammenhang zwischen dem Siedlungswesen und der politischen Gliederung der baltischen und ostseefinnischen Stämme dieses Raumes und der Genesis deutscher Verwaltungsstrukturen, d.h. auf den Beziehungen von alten Siedlungs- zu neuen Verwaltungseinheiten, von baltischen Burgwällen zu Burg- und Städteneugründungen, aber auch auf dem Verhältnis von Landschaft und Burg sowie Burg und Siedlung. Das zentrale Interesse gilt den Auswirkungen des deutschen Herrschaftsaufbaus auf das baltische Siedlungsbild. Es soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit der Aufbau einer landesherrlichen Verwaltung eine Transformation der alten Strukturen bewirkte bzw. ob und in welchem Ausmaß alte Strukturen integriert wurden sowie welche Bedingungen und Gründe für diese Prozesse entscheidend waren. Das Dissertationsprojekt fügt sich damit in den Rahmen des Graduiertenkollegs „Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostseeraum“ ein.

Religiöse Praxis und kultureller Transfer. Monumentale Darstellungen der 15 Zeichen des Jüngsten Gerichts im Ostseeraum. Ein Beitrag zu Ikonographie, Funktion und Rezeption apokalyptisch-eschatologischer Bilderzyklen des Spätmittelalters

Dörte Brekenfeld
(Stipendiatin 10/2000-)

 

Eine Gruppe großformatiger Bilderzyklen, die die 15 Zeichen des Jüngsten Gerichts repräsentieren, bildet den Gegenstand der Dissertation. Es handelt sich um Wand- und Gewölbemalereien, die Teil eines größeren Ausmalungsprogrammes von Dorfkirchen sind und sich im Ostseeraum befinden, in Norddeutschland, Dänemark, Süd- und Mittelschweden sowie - als einzige Ausnahme - in Böhmen. Das Untersuchungsmaterial umfaßt acht monumentale, z.T. fragmentarisch erhaltene Bildfolgen, deren strukturelle Gemeinsamkeit in der zyklischen Anordnung von zumeist 15 Einzelszenen besteht. Alle Zyklen entstanden zwischen 1390 und 1510.

Innerhalb der eschatologischen Motivik gehören die Vorzeichen zu den selten monumental dargestellten Themen, die sich zudem im Raum nördlich der Alpen konzentrieren. Schwerpunkte der kunsthistorischen Untersuchung sind neben der ikonographischen Analyse der Bildmotive Aspekte der Rezeption der Bildwerke und Funktionszusammenhänge der Zyklen im Dekorationsprogramm von Sakralräumen. Grundlage für die Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen ist die vorausgehende monographische Erschließung der Zyklen.

Die literarische Legende von den 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts wurde in ganz Europa über Jahrhunderte rezipiert, bildliche Darstellungen existieren - neben monumentalen Zyklen - in Form von Illuminationen in Handschriften und Holzschnitten in Blockbüchern. Die vertiefende Beschäftigung mit diesen Vorlagen als Motivfundus für monumentale Vorzeichenzyklen erscheint lohnenswert, das Abhängigkeitsverhältnis zwischen „mobilen“ und nicht beweglichen, monumentalen Kunstwerken kann Aufschluß geben über die Vermittlungswege und einen Ideentransfer. 

Es scheint, daß es – abgesehen von der ungenauen Überlieferungssituation – eine Häufung der Zyklen und damit des Interesses an diesem Thema im Ostseeraum gegeben hat. Dieser These wird ebenso nachgegangen wie den Wechselbeziehungen der Zyklen untereinander, der Motivation der Darstellungen sowie der Rezeption des Themas im übrigen Europa. Letztlich können nur die Rekonstruktion und der Vergleich der spezifischen Entstehungsbedingungen aller Zyklen Aussagen ermöglichen über den Transfer religiöser Ideen, den Austausch allgemein gültiger sowie die Formulierung spezifisch-regionaler Bildmotive in dem durch die wissenschaftliche Perspektive vorgegebenen Terrain. In der Arbeit wird ein Material im Zusammenhang betrachtet, das von kunsthistorischer Seite kaum gewürdigt worden ist. Die Ikonographie einzelner Motive wurde nicht erschöpfend analysiert, ebenso wenig sind sozialhistorische, mentalitäts- oder religionsgeschichtliche Hintergründe erforscht worden. Die wenigen Publikationen zum Thema reichen, bis auf wenige Ausnahmen, nicht über einen dokumentarischen Charakter hinaus. Gerade die Wandmalereizyklen, die z.T. erst während des letzten Jahrzehnts freigelegt wurden, harren der kunsthistorischen Einbettung in einen entsprechenden Kontext und weiterführender Fragestellungen. Letztere sind hier durch das Rahmenthema des Graduiertenkollegs angeregt. Wie wirkt sich das den detaillierten Darstellungen innewohnende, identitätsstiftende Potential bei einer regionalen Identitätsbildung, aber auch bei der Verankerung der Menschen in einem endzeitlichen Horizont aus?

 

 

Nationale Aspekte einer transnationalen Disziplin – Zur rechtskulturellen Einbettung der Rechtstheorie in Schweden, Finnland und Deutschland zwischen 1960 und 1990

Christian Dessau
(Stipendiat 10/2000-)

 

 

Politischer Kontakt und kultureller Transfer. Untersuchungen zum fürstlichen Brief-, Boten- und Gesandtschaftswesen im Spätmittelalter am Beispiel der transalpinen Korrespondenz der Markgrafen von Mantua mit deutschen Reichsfürsten und dem dänischen Königshaus

Jürgen Herold

(Stipendiat 05/2000-)

 

Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die Feststellung, daß, von frühen Ansätzen im 19. Jahrhundert abgesehen, bislang weder grundlegende noch übergreifende quellenkundliche Arbeiten zum spätmittelalterlichen Brief existieren. Demgegenüber hat aber die Hinwendung der Mediävisten zu dieser Quellengattung in der jüngeren Vergangenheit mehr und mehr zugenommen. Spätmittelalterliche Briefe werden als historische Quellen in steigendem Maße interessanter, obgleich die methodischen Grundlagen zu ihrer Interpretation noch kaum entwickelt sind.

Die Untersuchung stützt sich dabei ganz wesentlich auf den transalpinen Briefwechsel der Markgrafen von Mantua mit ihnen verwandten nord- und inneralpinen Fürstenhäusern im 15. Jahrhundert: den Grafen von Görz, den Herzögen von Württemberg, den Markgrafen von Brandenburg, den bayerischen Wittelsbachern sowie dem dänischen Königshaus.

Der Grund für die Auswahl dieses Quellencorpus ist die außerordentlich günstige Überlieferungssituation im Archivio Gonzaga in Mantua. Hier haben sich eine Vielzahl von Briefen sämtlicher Kommunikationsebenen – von „persönlich“ bis „hoch politisch“ erhalten. Sie belegen den zeitweise sehr intensiven Kontakt der Mantuaner Markgrafen mit deutschen Fürstenhäusern. Zusammen mit den Archivalien aus den entsprechenden deutschen und dänischen Archiven gewährt diese Korrespondenz Einblicke sowohl in die Eigenarten des italienischen als auch des nordalpinen Korrespondenzwesens wie auch in deren gegenseitige Verbindung und mögliche Beeinflussung. Die Untersuchung soll drei Komplexe, einen systematischen, einen typologischen und einen strukturellen, umfassen. Im systematischen Teil geht es um vergleichende Untersuchungen zu den Prinzipien der formalen Gebundenheit bei der Abfassung von Briefen, um die Frage nach den Titeln und Anreden einschließlich der Verwendung klassifikatorischer Verwandtschaftsbezeichnungen. Der systematische Komplex wird Fragen der Definition und Klassifikation behandeln. Die Begriffsbestimmung dessen, was als Brief zu gelten hat, die Unterscheidung bestimmter Briefgenera und -typen sowie die Abgrenzung des Briefes von anderen Gattungen der Schriftlichkeit werden hier zur Sprache kommen.


Die Identität der Seeleute und fremden Kaufleute im Danzig des 17. und 18. Jahrhunderts

Maciej Maksymowicz

(Stipendiat 05/2000-)

Im 17. und 18. Jahrhundert bildete die Danziger Bevölkerung eine Gesellschaft, die sowohl ökonomisch wie auch sittlich, sprachlich und religiös differenziert war. Die Frage nach der Fremdheit der See- und Kaufleute, die „von außen” zu dieser ausgesonderten Gesellschaft gekommen waren, wird durch die Tatsache kompliziert, daß die Eigenschaften, die Ankommende von Ansässigen unterscheiden sollten, nicht immer ausreichend eindeutlich erscheinen und sich nicht unbedingt als eine unabänderliche Eigentümlichkeit zeigen. Die Seeleute und ausländischen Kaufleute im besprochenen Zeitraum bildeten in Danzig keine abgegrenzte Gruppe, die in Gegenüberstellung zu den „alten” Stadtbewohnern funktionierte. Sie bildeten ein ständiges Element der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Stadtstruktur.

Ihre „Fremdheit” erfolgte nicht aus der Tatsache, daß sie keine „einfach Unbekannten” waren, die das Leben der Danziger beeinflußten. Die Seeleute und fremden Kaufleute waren hier „die Ankömmlinge”, die in das Leben „der Hiesigen” getreten waren. Ein Ziel der Reise nach Danzig war für Seeleute und ausländische Kaufleute in der Regel der Handel. Daher räumte man den neuen Ankömmlingen auf der wirtschaftlichen Ebene Platz ein. Die hiesige Bevölkerung verteidigte ihre wirtschaftliche Stellung durch das Ausüben von Druck auf den Stadtrat, der Regelungen gegen diejenigen erlassen konnte, welche kein städtisches Bürgerrecht besaßen. Die angekommenen Kaufleute waren dagegen besser organisiert. Sie verfügten über ein besseres Bank- und Kreditsystem, besaßen eine modernere Flotte und ein größeres Kapitalvermögen. Trotz dieser Lage waren die Handelskontakte und, was damit verbunden ist, die gesellschaftlichen Kontakte zwischen den „Ankömmlingen” und „Hiesigen” unvermeidlich. Der gegenseitige Wettbewerb führte weder zur Abschottung der „Ankömmlinge” von den „Hiesigen” noch verursachte er die Vergrößerung der Distanz zwischen den Gruppen. „Die Fremdheit” der Seeleute und der ausländischen Kaufleute bildete dagegen für die Stadtbürger von Danzig einen Vorwand für den propagandischen Kampf gegen die wirtschaftliche Konkurrenz.

 

Die Dynamik der Identitäten – kulturelle Kontakte und Identifikation in Schwedisch-Pommern 1720-1820

Andreas Önnerfors

(Stipendiat 05/2000-)

 

„Culture Clash” im Baltikum? Deutschbalten und Esten um 1800

Ulrike Plath

(Stipendiatin 10/2000-)

 

Die über 700jährige gemeinsame Geschichte von Deutschbalten und Esten, die im 13. Jahrhundert blutig begann und 1939/44 abrupt endete, hat sich im kollektiven Gedächtnis beider Volksgruppen in Selbst- und Fremdbildern von starker emotionaler Kraft und langer Dauer festgesetzt. Das Ziel der Dissertation ist es, Grundlinien, Möglichkeiten und Schwierigkeiten des deutsch-estnischen Mit- und Nebeneinanders während einer besonderen Achsenzeit, der Bauernbefreiung der Jahre 1816/19, nachzuzeichnen. Die Aufhebung der Leibeigenschaft von Esten und Letten war nötig geworden, da die hierauf basierende deutschbaltische Gesellschaft ökonomisch, sozial und politisch unter starken Reformdruck geraten war. Die Frage nach der Neuordnung der Gesellschaft und der Stellung der „Undeutschen“ oder „Nationalen“ in ihr wurde in den russischen Ostseeprovinzen zum beherrschenden Thema der öffentlichen und privaten Debatten. Subjektive Quellen, wie Memoiren, Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, geben die gängigen Vorstellungen über die Esten und den Umgang mit ihnen wieder. Sie zeigen damit auch, inwiefern der wissenschaftliche und publizistische Diskurs im Privaten diskutiert und praktisch umgesetzt wurde. Doch waren die gesellschaftlichen Veränderungen in den Ostseeprovinzen nicht allein deutschbaltische Sache: Auch in Petersburg und in Deutschland zeigte man gesteigertes Interesse an den dortigen Reformbemühungen. 

Wie widersprüchlich das Estenbild der Deutschen im Baltikum war, soll anhand dreier für die Generierung und Aufrechterhaltung dieses Bildes besonders wichtiger sozialer Gruppen und Gruppierungen gezeigt werden. Die in Deutschland als Privatlehrer für die Kinder der Gutsbesitzer angeworbenen „Hofmeister“ veranschaulichen den mit der Französischen Revolution zunehmend problematischen Prozeß der Integration immigrierter Akademiker in die deutschbaltische Gesellschaft. Als Protest gegen die konservative, allein auf Machterhalt bedachte Gesellschaft verweigerten sich liberal denkende Hofmeister zunehmend dieser für den Erhalt der baltischen Gesellschaft nötigen Integration durch Rückkehr nach Deutschland, von wo aus sie mit gezielter Negativpropaganda Druck auf die Reformen ausübten.

Ihr Gegenbild bildeten die „baltischen Barone“, also die auf dem Land lebenden Gutsbesitzer, die von allen deutschen Schichten wohl den direktesten und am stärksten hierarchisch geformten Umgang mit den Esten pflegten. Obwohl sie das erklärte Ziel der Kritik ehemaliger „Hofmeister“ und der deutschbaltischen Aufklärung waren, gab es gerade unter ihnen jedoch auch heftige Befürworter der Bauernbefreiung. Nicht zuletzt waren sie es auch, die gebunden an ihre soziale Stellung und den Hof in Petersburg die Politik im Baltikum und damit auch den Lauf der Reformen bestimmten.

Prägende Wirkung auf das neue Bild von den Esten, die nach der Bauernbefreiung im Sinne Herders zunehmend als eigenständiges kulturelles Subjekt in der europäischen Völkerfamilie begriffen wurden, hatte die Tätigkeit der sogenannten „Estophilen“. Zu ihnen zählten kulturell engagierte Deutschbalten und sozial aufgestiegene Esten, deren Schriften die Nationalbewegung der Esten in der zweiten Jahrhunderthälfte vorbereiteten. Ausschließlich in dieser kulturellen Mittlerschicht wurde das kulturelle „Andere“ der Esten zum zentralen Gegenstand des Interesses, wobei die Ansichten über das weitere Fortbestehen der estnischen Sprache und Kultur und damit über Ziel und Zweck der eigenen Arbeit weit auseinander klaffen konnten.

Die Integration der nach der Bauernbefreiung verstärkt sozial aufsteigenden Esten verlief jedoch nicht immer so problemlos wie unter Akademikern. Gerade in den „halbdeutschen“ Schichten stießen sie erneut auf die bereits bekannten Vorurteile. Die halbherzig durchgeführten Agrarreformen und die somit unvollständige soziale Modernisierung führten zum Fortleben der alten Negativ-Stereotype, die die Gesellschaft nun nicht mehr sozial, sondern zunehmend kulturell und national spalteten. In der Arbeit soll versucht werden, das Fortbestehen der Fremdheit zwischen Deutschen und Esten und die zunehmende Distanz zwischen Deutschen und Deutschbalten nach 1800 unter anderem mit kolonialen Denk- und Handlungsmustern der Deutschbalten zu erklären. Methodisch werden hierfür Modelle zur Beschreibung und Analyse kolonialer Gesellschaften übernommen, wodurch die Einbindung des Baltikums in die Geschichte des deutschen Vorkolonialismus erreicht wird.

Deutsche, Polen und Franzosen nach 1918.

 

Deutungsmuster in der zeitgenössischen Belletristik

Marike Werner
(Stipendiatin 05/2000-03/2002)

 

Die Dissertation „Deutsche, Polen und Franzosen nach 1918“ setzt die Wahrnehmung der Ostseeanrainernationen der Polen und Deutschen in Beziehung zur Rolle der Franzosen im deutschen nationalen Empfinden. Die Untersuchung zielt auf einen Vergleich der Bedeutung der zwei wichtigsten Nachbarnationen der Deutschen im politischen Bewußtsein der Epoche zwischen 1918 und der Frühphase der zweiten Nachkriegszeit. Sie liefert eine Analyse der gegenseitigen Konstituierung von Fremd- und Eigenwahrnehmung als Faktor der Beziehungsgeschichte.

Das Projekt schließt eine Forschungslücke, indem es die üblicherweise getrennte Analyse von Fremd- und Selbstbild in einer Synthese zusammenführt und die Beschränkung auf jeweils eine Außenbeziehung aufhebt. Das Thema liegt am Schnittpunkt von Mentalitätsgeschichte, Literaturhistorie und politischer Strukturgeschichte und erfordert ein interdisziplinäres Herangehen. Vor allem versteht sich das Projekt als Beitrag zur Einbettung der einzelnen bi-nationalen Beziehungen in den europäischen Gesamtzusammenhang.

Als Quellen dienen deutsche Romane, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der mit ihm verbundenen staatlichen Neuordnung Ostmitteleuropas erschienen sind und das zeitgenössische Verhältnis der Deutschen zu Polen und Franzosen behandeln. Von den Zeitgenossen so benannte „Grenzlandromane“ repräsentieren nahezu vergessene Geschichtserzählungen „von unten“, die Erfahrungen des Zusammenlebens in multinationalen Kontaktzonen nachvollziehbar machen und abstrakte Politik in den vorstellbaren Bereich individueller Erfahrung rücken.

Gemeinsames Thema für einander literarisch, regional und ideologisch fremde Autorinnen und Autoren wurden die Grenzen des Versailler Vertrages. Bei „Grenze“ handelt es sich um einen Schlüsselbegriff, der den antidemokratischen mit dem antifranzösischen und dem antipolnischen Diskurs der Weimarer Republik verbindet. Die aus der Romaninterpretation gewonnene Analyse des Deutungsmusters „Grenze“ ist zentral für das Anliegen des Graduiertenkollegs, indem sich daraus Erkenntnisse für die Problemfelder Identität und Fremdheit ableiten lassen. Grenze ist wie Fremdheit eine relationale Kategorie, also keine absolute Größe. Deutschsprachige „Grenzlandromane“ ziehen eine Grenze zwischen eigentlich nahen Fremden, also etwa national unterschiedlich orientierten Oberschlesiern oder Elsässern, deren Lebensweise sich voneinander sehr wenig unterscheidet sowie zwischen Grenzanrainern und den ignoranten Binnenländern in Berlin. Die Grenze konstituiert nicht nur das Fremde, das ausgegrenzt wird, sondern ebenso das Eigene, das sie eingrenzt.

Die Geschichte des deutschen Nationalstaats ist gleichzeitig die Geschichte der deutsch-polnischen und der deutsch-französischen Beziehungen: Beziehungsgeschichte(n) und Nationalgeschichte sind füreinander konstitutiv. Die Verknüpfung ihrer nationalen Entwicklung mit der Beziehung zu Frankreich war den Deutschen meist bewußt. Polen dagegen fehlt im deutschen Bewußtsein als Faktor der Nationswerdung. Die Ursache dürfte auf der Ebene der Mentalität zu finden sein. Die Nachbarnationen erfüllen im deutschen Bewußtsein verschiedene Funktionen der Identitätsbildung; sie besetzen jeweils bestimmte Aspekte des Bedeutungsfeldes, das sich um Begriffe von Nation, Staat und Politik aufbaut. Häufig werden Debatten über die Entwicklung der eigenen Gesellschaft als Debatten über andere Länder geführt, die als positive oder negative Leitbilder gelten. Die imagologische Forschung ist sich darüber einig, daß „Projektion“ und „Kompensation“ zu den Hauptfunktionen literarischer ‚Bilder‘ zählen. Dennoch beschränken sich die meisten Arbeiten auf eine Blickrichtung, untersuchen also beispielsweise nur das deutsche Polenbild oder die russische Vorstellung von Deutschland und Deutschen. Sie stufen das Eigenbild lediglich als pathologische Ursache des Fremdbildes ein, ohne es selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Dagegen steht hier die deutsche Eigenwahrnehmung als selbständiges Thema neben der Wahrnehmung der Nachbarnationen.

Die Vorstellung vom Fremden konstituiert sich durch die Intensität und die Art des Kontakts mit ihm auf der einen Seite und dem Wunsch nach Festigung der eigenen Identität auf der anderen. Dies Geflecht ist nur nachzuvollziehen, wenn sich die Aufmerksamkeit der Interpretation auf die Darstellung aller beteiligten Größen in gleichem Maße richtet. In der Differenzierung regional verschiedener Konzepte davon, wer oder was eigentlich „deutsch“ sei, erweist sich die Vorstellung vom Nachbarn auch als Funktion innerdeutscher Rivalitäten und Abgrenzungen.

Anders als viele literaturwissenschaftliche imagologische Arbeiten wird die vorgestellte Dissertation nicht fragen, wie das Bild des Polen oder der Deutschen beschaffen sei. Das Interesse richtet sich vielmehr darauf, in welchen Kontexten das Verhältnis zwischen Deutschen und den Nachbarnationen thematisiert wird, welche Assoziationen sich im Alltagsdenken an Deutsche oder Polen knüpfen und mit welcher ideologischen Zielsetzung die Bilder der anderen entwickelt werden und Bedeutung gewinnen.

 

  1. Ehemalige Kolligaten

 

FremdBild und EigenSinn(e) – Untersuchungen zu Fremd- und Selbsbezug

Dr. Johanna Junk
(Postdoktorandin 05/2000-07/2000)

Bilder sind als komplexitätsreduzierende Deutungsmuster ein unverzichbarer Faktor der weltorienrenden Leistung kultureller Systeme. Kants ”Kritik der reinen Vernunft” thematisiert diese Orientierungsfunktionen unter den Stichworten ”Bild”, ”Schema”, ”Idee”. Die Funktion der Vernunft hingegen besteht Kant zufolge gerade in der Einsicht, daß solche Orientierungshilfen immer nur innerhalb eines eingeschränkten, nämlich auf das eigene System bezogenen Horizonts Geltung beanspruchen dürfen. Aus dieser Einsicht ergibt sich dann aber das Problem, wie die divergierenden Muster fremder Weltorientierung überhaupt zugänglich werden können. In Bezug auf diese Frage sollen die Forschungsansätze und –resultate der Bildwissenschaften, Bildphänomenologie und der Zeichenphilosophie nutzbar gemacht werden.

 

 

Universalität als Programm – Naturrecht als integrierendes Moment für die intellektuellen Eliten des Ostseeraumes im
ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert

Dr. Peter Schröder
(Postdoktorand 10/2000-03/2001)

 

In dieser interdisziplinär angelegten Studie wurde den Rezeptionszusammenhängen des Naturrechts im Ostseeraum nachgegangen. Die intellektuellen Verbindungen und Transformationsprozesse wurden in Fallstudien anhand der differenzierten biographischen, institutionellen (universitären) oder inhaltlich-argumentativen Schnittmengen erfaßt und analysiert. Da die staatsrechtlichen, politischen und moralphilosophischen Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts nachdrücklich durch das moderne Naturrecht geprägt wurden, lag das leitende Interesse meiner Untersuchung in der Beantwortung der Frage, inwieweit die intellektuellen Eliten (Gelehrte, gebildetes Lesepublikum/Rezensionswesen) der Länder des Ostseeraumes an dieser Entwicklung teil hatten oder zumindest von ihr beeinflußt wurden. Die Werke von Hugo Grotius, vor allem aber die Schriften von Samuel Pufendorf, Christian Thomasius und später von Christian Wolff machen die grundlegende Entwicklung dieser modernen Naturrechtstradution aus. Besonders in Deutschland wurde die Rechts- und Morallehre im 18. Jahrhundert durch die Naturrechtslehre bestimmt, bis sie durch Kant entscheidende neue Impulse und Modifizierungen erhielt.

Ausgehend von den zentralen naturrechtlichen Theorien und den prominenten Vertretern des Naturrechts wurde untersucht, wie diese Theorien vermittelt und verbreitet wurden und in welchen spezifischen Kontexten sie instrumentalisiert wurden. Die Übersetzungen des Hugenotten Jean Barbeyrac und seine Rolle als „Vermittler“ ist hier besonders signifikant. Es konnte nachgewiesen werden, wie das Naturrecht in den verschiedenen zeitgenössischen intellektuellen Kontroversen aus ganz unterschiedlichen Interessenlagen heraus genutzt und sogar instrumentalisiert wurde. Es gehört damit zu einem wesentlichen Bestandteil der staats- und moralphilosophischen Debatten innerhalb der Frühaufklärung.

Durch die vergleichende Perspektive dieser beiden Fallstudien (Natural Law and Enlightenment in Comparative Perspective bzw. Überlegungen zum naturrechtlichen Diskurs in Dänemark am Beispiel Holbergs, Arbeitstitel) war es nicht nur möglich festzustellen, wo der „naturrechtliche Diskurs“ geführt worden ist, sondern es konnte auch die unterschiedliche strategische Verwendung der naturrechtlichen Argumente in den spezifischen Kontroversen aufgezeigt werden. Für die materielle Förderung meiner Forschung im Rahmen meiner Mitarbeit des Graduiertenkollegs möchte ich an dieser Stelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausdrücklich danken. Vor allem aber hat die Mitarbeit in dem von Prof. Dr. Michael North geleiteten Graduiertenkolleg mir die Möglichkeit zu neuen, interessanten und weiterführenden Fragestellungen ermöglicht, die ich ohne die Teilnahme an diesem Kolleg so nicht hätte gewinnen können.

 

 

Die Heiratsbeziehungen der skandinavischen Königshäuser ins Reich und nach Europa (1200-1600)

Dr.Andreas Niemeck
(Postdoktorand 05/2001-04/2002)

 

Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Skandinavien und den anderen Teilen Europas hat eine lange wissenschaftliche Tradition.Meist standen die politischen oder wirtschaftlichen Aspekte dieser Beziehungen im Mittelpunkt des Interesses, doch auch das Konnubium der skandinavischen Königshäuser ins Reich und nach Europa ist intensiv untersucht worden. Allerdings wurden die Heiratsbeziehungen unter dem Blickwinkel des im Graduiertenkolleg untersuchten Problemfeldes Fremdkontakt und seiner integrativen und/oder divergierenden Auswirkungen seltener behandelt. Erst in jüngerer Zeit haben diese Aspekte stärkere wissenschaftliche Zuwendung erfahren.

Welche Brisanz das Spannungsfeld zwischen Fremdheit und Integration bei einem königlichen Konnubium hatte, wird allein schon dadurch ersichtlich, daß die Wahl des Ehepartners meist über die Köpfe der zukünftigen Eheleute hinweg getroffen wurde. Das angehende Paar war sich also oft im weitesten Sinne des Wortes fremd: es hatte sich nicht nur in den allermeisten Fällen vorher nie gesehen, sondern entstammte sogar unterschiedlichen Kulturkreisen. Ihre Eheschließung war vor allem von politischen Motiven, aber auch durch ein Geflecht von finanziell-wirtschaftlichen, dynastischen und kirchenrechtlichen Rücksichten bestimmt.

Zur Beleuchtung des gesamten Spannungsfeldes sind vor allem die diplomatischen Aktivitäten, die sich in der Phase der Anbahnung von Heiratsprojekten entspannen, der erfolgreiche Abschluß des Ehevertrages, die anschließende Brautfahrt, das erste Zusammentreffen und die Heirat sowie schließlich die Auswirkungen des Fremdkontaktes auf die neue Heimat als auch auf den fremden und den heimischen Ehepartner in den Blick zu nehmen.

Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich wegen der dann reichlicher fließenden Überlieferung vom Beginn des 13. Jahrhunderts bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts, wobei auch der Endpunkt dieses Zeitrahmens bewußt gewählt ist, um auf integrative oder divergierende Aspekte eingehen zu können, die sich aus der seit den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts erfolgten Einführung der Reformation in Skandinavien ergeben. Dagegen wird der Untersuchungsraum vom Konnubium selbst bestimmt. Dieser erstreckt sich bekanntermaßen von den unmittelbaren skandinavischen Nachbargebieten, wie Schleswig, Holstein, Mecklenburg oder Pommern, über die etwas entfernteren wie Brandenburg oder Böhmen bis weit in den Westen Europas nach England und Portugal.

Da sich das Leben des königlichen Hauses quasi öffentlich, vor aller Augen vollzog, kommt für die Bearbeitung dieses Themas nicht nur die urkundliche, sondern in besonderem Maße die chronikalische Überlieferung in Betracht. Bei aller quellenkritischen Bewertung bietet gerade sie für das hier behandelte Thema ein über die meist dürren Aussagen des Urkundenmaterials hinausgehendes, lebendiges und farbiges Bild, das gerade durch die subjektiven Aussagen der handelnden Personen wie der Berichterstatter für den hier untersuchten Gegenstand Fremdheit und Integration höchst aufschlußreich ist.

So treten die Brautfahrten sehr deutlich in den Quellen hervor. Eingängig werden hier nicht nur die Gefahren des Reisens geschildert, sondern die Beobachter legten auch größten Wert auf die Schilderung einzelner Details, z.B. was die Größe der Aussteuer, aber auch ihren Wert und ästhetische Beschaffenheit anging, wobei natürlich das „Fremde“ besondere Beachtung aber auch Wertung erfuhr.

Auch das Aussehen der Braut wurde ausführlich beschrieben. Am neuen Hof angekommen, befand sich sie sich unter einem hohen Zwang, sich möglichst schnell an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Auch dieser Prozeß unterlag der genauen Beobachtung der Zeitgenossen. Diesem Druck waren übrigens auch auswärtige Reichsfürsten ausgesetzt, die in einem skandinavischen Land zum König gewählt wurden. Eine Anpassung an die fremden rechtlichen Gegebenheiten und Sitten wurde auch von ihnen erwartet und bei Nichtbefolgung scharf gegeißelt. Methodisch problematisch dagegen ist der Nachweis dieses potentiellen Konfliktfeldes in der ersten Phase der Anbahnung von Eheprojekten. Sie wurden von rangniederen Gesandten betrieben, damit bei einer etwaigen Absage alle beteiligten Parteien ihr Gesicht wahren konnten. Dem entsprechend finden diese Vorverhandlungen, von einigen Ausnahmen einmal abgesehen, in den Quellen kaum Niederschlag.

In dem hier nur kurz skizzierten zeitlichen, methodischen und inhaltlichen Rahmen soll das Verhältnis von Integration und Divergenz untersucht werden, das auch über das persönliche Umfeld hinausgeht: gibt es wirklich einen Zusammenhang zwischen dem königlichen Konnubium und beispielsweise einer vermehrten Migration aus dem entsprechenden Land oder einer Übernahme bzw. Adaption einzelner Rechtsnormen, wie es teilweise angenommen wird? Wie hoch war der Grad der jeweiligen Austauschprozesse? Fanden diese nationalen Geschehnisse ihre Entsprechung auch im höfischen Rahmen, beispielsweise in der Übernahme eines bestimmten Zeremoniells? Sollte dies zutreffen, so ist vor dem eben skizzierten Hintergrund die Integrationswirkung der internationalen Heiraten für die europäische Völkergemeinschaft möglicherweise sehr hoch einzuschätzen.