Koloniale Kindheit. Inkulturation und Sozialisation von Kindern und Jugendlichen im kolonialen Indien (17.-19. Jahrhundert)

Das Forschungsvorhaben untersucht europäische Kinder und Jugendliche als gesellschaftliche Gruppen in der kolonialen Welt der Frühen Neuzeit. Als Hauptziel soll dabei geklärt werden, in welchem Umfang die besondere koloniale Umwelt (Kulturkontakte, Diasporagesellschaft, Klima) zur Herausbildung einer eigenständigen kolonialen Kinder- und Jugendkultur in Übersee führte oder ob die koloniale Kinderwelt allein ein Spiegelbild der Strukturen im jeweiligen Mutterland darstellte.

Seit dem Beginn der Frühen Neuzeit etablierte sich auf dem indischen Subkontinent nicht allein ein stetig wachsender europäischer kolonialer Handel, sondern es bildeten sich mit der Präsenz europäischer Kaufleute spezifische Haushalts- und Familienstrukturen heraus. Während sich die

Anwesenheit europäischer Familien bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein – von wenigen Ausnahmen abgesehen – punktuelle auf die maritime Peripherie beschränkte, konstituierte sich mit der territorialen Expansion der britischen East India Company auch im Hinterland eine europäische Gesellschaft mit kommerziellen und sozialen Kontakten zur indigenen Bevölkerung. Die Kerngruppen dieser kolonialen Gesellschaft – also Kaufleute, koloniale Beamte und Soldaten – wurden in sozialhistorischer Hinsicht bereits systematisch erforscht; hingegen existieren zu den übrigen Gruppen (Frauen – darunter auch Witwen, Alte, Kinder und Jugendliche, Randgruppen wie Prostituierte, Kriminelle, Bankrotteure) kaum geschichtswissenschaftliche Untersuchungen. Dieses Forschungsdesiderat ist gerade bezüglich der Kinder und Jugendlichen um so gravierender, da sich parallel zur territorialen Expansion in Indien ein elementarer Wandel in Europa bei der Wahrnehmung von Kindheit und Jugend mit grundlegenden Reformen vollzog, wie er sich beispielsweise in den Schriften Rousseaus oder Campes äußerte. Somit ging die Herausbildung einer breiten kolonialen Gesellschaft in Indien mit gänzlich neuen Gesellschafts- und Wertvorstellungen in der Heimat einher. Obwohl im Vergleich zu Europa zahlenmäßig unterrepräsentiert und kaum von der zeitgenössischen Öffentlichkeit als eigenständige soziale Entität wahrgenommen, stellten Kinder und Jugendliche in der kolonialen Welt Asiens eine separate gesellschaftliche Gruppe mit spezifischen Problemen und Bedürfnissen dar. Neben den auch für Europa geltenden Normen, Anforderungen und Wahrnehmungsperspektiven seitens der Erwachsenenwelt sowie einer zeitgenössischen Klassifikation in unterschiedliche Lebensalter, lassen sich für europäische Gesellschaften in Übersee Besonderheiten ausmachen. Hierzu zählen demographische Disparität gerade in der Frühphase der europäischen Expansion in einer Diasporagesellschaft (geringe Kinderzahlen in einer weitgehend merkantil geprägten Welt), klimatische Besonderheiten (aus denen oftmals Krankheiten resultierten) sowie enge kulturelle Kontakte mit

den indigenen Gesellschaften. Mit dem indischen Subkontinent wird ein repräsentatives Beispiel gewählt, welches einerseits die zahlreichen Facetten kolonialer Niederlassungen und Vergesellschaftungsformen widerspiegelt (Handels- und Siedlungskolonie, Militärstützpunkt, Missionsstation,

Siedlungsenklave im indigenen Territorium; unterschiedliche europäische Handelsnationen), andererseits aber von den Quellen her überschaubar bleibt.

 

Das Projekte wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Michael North und PD Dr. Martin Krieger von dem Projektmitarbeiter Dr. Jörg Driesner von 2006-2008 durchgeführt.

Projektbeschreibung "Koloniale Kindheit" als PDF-Download